Constanze Kirchner

Das Spirituelle im Gegenwärtigen

Annotationen zu den Wald-Gemälden von Urs Freund

Urs Freund ist ein realistischer Maler – ein Maler, der über eine ausge­zeichnete handwerkliche Perfektion verfügt, die seinen Gemälden zugrunde liegt. Im Gegensatz zu anderen Stilrichtungen der Malerei scheint auf den ersten Blick die realistische Darstellung der Bildgegenstände nichts anderes zu zeigen als jene Dinge, die abgebildet sind – so wie sie sind. Erst auf den zweiten Blick erschließen sich die emotionalen und geistigen Qualitäten der Werke, denn über die bloße Erscheinung hinaus beinhalten die Gemälde von Urs Freund eine Art metaphysischer Transzendenz, die sich – weitgehend unabhängig von der Motivwahl – in der Art und Weise des strengen Bildaufbaus, der Farbigkeit, des Rhythmus und des Duktus zeigt. Nicht die malerische Handschrift, sondern der malerische Blick prägt entscheidend die Aussagekraft der Werke.

Bleiben wir zunächst beim ersten Blick: Die verschiedenen Wald-Motive – sei es die Ansicht aus der Ferne oder die Nahsicht auf die Rinde der gefällten Stämme – verweisen auf nichts und wollen über das Dargestellte hinaus keine Aussage treffen. Sie beschreiben malerisch das, was sie sind. Weder geht es um die existenzielle Gefährdung des Menschen durch die akute ­Bedrohung des eigenen Lebensraums, noch um eine sinnliche Naturbegegnung, die im Wald im Einklang mit der Natur möglich ist. Gezeigt wird der Wald mit seiner üblichen holzwirtschaftlichen Nutzung (vgl. Kleiner Wald 2) oder wie wir ihn im Vorüberfahren auf der Autobahn wahrnehmen (vgl. Großer Wald 10): unprätentiös und vermeintlich willkürlich. Die Landschaft wird weder ideologisch überhöht noch romantisierend dargestellt, sondern vielmehr minutiös abgebildet, so wie der Wald in seinen zerteilten Parzellen mitteleuropäischer Kulturlandschaft wahrzunehmen ist. Es wird auch nichts besonders Typisches an ihm sichtbar gemacht, lediglich die Lichtgestaltung und die Inszenierung der Bildobjekte zu- und miteinander bringen die Bilder zum Sprechen.

Denn es gibt noch einen zweiten Blick: Schaut man auf die mit Bedacht gewählten Motiv-Ausschnitte und die Komposition der Bildelemente, fällt eine strenge, meist zentral gerichtete Anordnung der Bildelemente auf. Drei Beispiele sollen verdeutlichen, dass insbesondere die kompositorische Präzision, gepaart mit bildnerischer Harmonie, Lichteinfall und akribisch exakter Darstellung den Ausdruck konstituieren.

Erstes Beispiel (Großer Wald 5): Im Zentrum über zwei Stapeln von Nadelhölzern schwebt eine Wolke, die diffus von unten beleuchtet wird. Der Blick des Betrachters wird zwischen den beiden Holzstapeln hindurch auf das Bildzentrum gelenkt und damit mitten hinein in das Licht. Licht bedeutet im christlichen Glauben ebenso irdisches wie überirdisches, ewiges Leben. Das Licht verspricht nicht nur Rettung aus der Finsternis (der dunklen Holzstapel, die dem Betrachter im Weg liegen), es bedeutet auch Erkenntnis – ein Gedankenblitz ist erhellend, und Wissen erleuchtet den Geist.

Zweites Beispiel (Großer Wald 9): Nahezu bildmittig sitzt die Spitze des sich ­bereits im Verfall auflösenden Holzstoßes am Rand eines Fichtengehölzes. Zwei starke Nadelholzstämme gliedern in der Verlängerung des Holzstapels mit seinen herabrutschenden Hölzern das Bild in klar angelegte Segmente. Dicht und nackt streben die Bäume nach oben und erinnern dabei an die Pfeiler und Dienstbündel gotischer Kathedralen. Über das Unterholz hinweg scheint das andere Ende des Waldstückes mit weißblauem Himmel hindurch. Auch die Bewegung des wärmenden Lichts von der rechten Bildhälfte, um den Holzstoß herum, in die düstere linke Waldhälfte hinein, lässt an das farbige Licht denken, das in den dunklen Raum mittelalterlicher Kirchen schimmert. Wie im sakralen Gebäude sind die Lichtblitze nicht als Durchblick gedacht, sondern intensivieren allein die Innenwirkung des Gehölzes. Die Lichtdurchlässe versammeln und verdichten das Licht, so dass der Wald aus sich selbst leuchtet.

Drittes Beispiel (Großer Wald 7): Vielleicht mag es etwas weit hergeholt klingen, doch auch der Blick auf den etwas zurückliegenden Waldsaum erlaubt den Gedanken an sakrale Architektur. Mit den filigranen Verzweigungen der beiden, im Vordergrund hoch über den Wald herausragenden Bäume verbindet sich die Assoziation an die beiden Türme des Kölner Doms. Ein kleiner Dachreiter ergänzt den Eindruck. Unterstützt wird dieser Gedanke durch die Parallelität der dichten, hohen Baumreihen, die strukturelle Analogien zu der durch schlanke Strebepfeiler geprägten Fassade des Kölner Doms ermöglichen. Zugleich strahlt der schwarze Nadelwald mit seinem starken Kontrast zum strahlenden Himmel Stille und Besinnlichkeit aus. Schweigend, undurchdringlich und verschlossen liegt der Wald mit seiner Dunkelheit vor dem Betrachter. Der Wald soll keine Assoziationen an dämonische und unheilvolle Seiten menschlichen Daseins wecken, sondern als eine präsente, gelebte Wirklichkeit einfach da stehen.

Die Spiritualität in den beschriebenen Gemälden zeigt sich weder im Abgebildeten noch in den mit dem Dargestellten verknüpften Assoziationen. Das metaphysisch Transzendente in den Werken liegt in ihrer Gestalt. Ähnlich wie in den Gemälden von Piet Mondrian basiert das Spirituelle auf den subtilen kompositorischen Gleichgewichtssystemen, die sich in Rhythmen, Farben und geometrischen Anordnungen spiegeln. Die Bildkoordinaten gibt der Wald mit seinen vertikalen und horizontalen Strukturen vor. Es entsteht ein motivisch gefüllter Raum hinter diesen waagrechten und senkrechten Koordinaten, der zusammen mit der bildnerischen Geometrie verschiedene Sinnschichten beinhaltet. Um diese Sinnschichten zu entwickeln, die sich in der gesamten Serie der Wald-Bilder in unterschiedlicher Weise zeigen, bedarf es des eines geradlinigen künstlerischen Willens, der in der stringenten Entwicklung der Wald-Reihe deutlich wird.

Auch mit der zwingenden künstlerischen Stringenz erhalten die Werke ihre metaphysische Transzendenz: das Grenzüberschreitende, das Spirituelle, das als geheimnisvolle Magie einer anderen, imaginären Welt zu uns spricht, deren räumliche und zeitliche Grenzen aufgehoben sind. Die Werke von Urs Freund wollen keine heilige Orte darstellen oder göttliche Ordnungen beschreiben. Und doch gelingt es ihnen, Bildwirklichkeiten zu schaffen, die das Unfassbare, das Spirituelle aufscheinen lassen.

Prof. Dr. Constanze Kirchner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kunstpädagogik an der Universität Augsburg

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