Paul Hoyningen-Huene
Bäume - zu Urs Freunds Bildern
„Aber kann man denn heute noch so malen?“ war mein erstaunter Ausruf zu mir selbst, als ich den Katalog von Urs Freunds Bildern mit den verschiedenen Baum-Themen zum ersten Mal sah. Der Hintergrund dafür war ein Gespräch mit einem Maler, das viele Jahrzehnte zurück liegt, und der mir darlegte, dass alle Formen naturalistischer Malerei mit der Weiterentwicklung der Photographie vorbei seien. Das hatte mir eingeleuchtet: Malerei musste demnach irgendeine Art der Verfremdung des Gegenstands – falls sie überhaupt gegenständlich war – beinhalten, die den Kontrast zur Photographie augenscheinlich machte. Ohne diese Verfremdung, welcher Art auch immer: Könnte die Malerei je gegen die Photographie bestehen? Und selbst wenn sie an die Genauigkeit der Photographie herankäme: Was wäre der Witz des Malens, wenn eine Photographie, erzeugt in Sekundenbruchteilen nach der überlegten Wahl des Sujets, der Aufmerksamkeit auf das Licht, der richtigen Positionierung der Kamera etc. ein gleichwertiges Bild praktisch fehlerfrei erzeugt? Das schiene mir ähnlich wie der Stolz des Uhrmachers, der eine mechanische Uhr bauen kann, die an die Genauigkeit einer elektronischen Uhr herankommt: natürlich eine tolle Leistung, aber eigentlich passé. Wie der Stolz des Seglers, der von Hand einen Kurs so gut halten kann wie das automatische Ruder. Das scheint doch ganz allgemein so zu sein: Was in einer bestimmten historischen Situation eine hoch zu achtende menschliche Leistung darstellt, kann später weitgehend oder ganz entwertet werden – jedenfalls in meinen Augen –, wenn sie durch technische Möglichkeiten überholt wird. Was nützt die virtuoseste Fechtkunst, wenn der Gegner eine Pistole ziehen kann? Die dennoch weitergeführte Wertschätzung ist dann nur nostalgisch, und das ist und war mir immer zu wenig, zu wenig von der Gegenwart und zu wenig von der Zukunft enthaltend.
Dennoch sprachen mich die Bilder an (eine wirklich „sprechende“ Metapher). Was war es? Ich erinnerte mich an Jahrzehnte zurückliegende Szenen, als ich in Phasen erhöhter perzeptiver Aufmerksamkeit nachts durch München strich und mich nicht sattsehen konnte an dem Unterschied, wie sich Häuser und wie sich Bäume aus dem Boden erheben. Was für eine vielgestaltige Grazie bei den Bäumen, was für eine geometrische Plumpheit bei den Häusern! In welcher Harmonie steht der aus dem Boden herausragende Teil des Stammes zum ganzen Baum, in welcher Willkürlichkeit der unterste sichtbare Teil eines Hauses zu dem, was weiter oben kommt? Zeigt nicht jeder Baum, auch wenn er nicht einfach gerade und ungestört nach oben strebt, eine besondere Art des Stolzes, der Ruhe? Tief in der Nacht im Englischen Garten, auf einer Lichtung, den Blick nach oben gerichtet, der Himmelsausschnitt gesäumt von Baumspitzen, sanft bewegt vom Wind oder gänzlich unbewegt; minutenlang. Wenn sich dann langsam auch die Geräusche der Nacht ins Bewusstsein schoben, das Rauschen der Bäume, das Knacken eines Astes, und schließlich auch der Wind die Haut berührte: das waren meine intensivsten Begegnungen mit Bäumen. War es das, was Urs Freunds Bilder auch beinhalteten?
Ich weiß es nicht; vielleicht. Aber es gibt hier noch etwas anderes. In meinen Baum-Erlebnissen gab es immer eine gewisse Intimität mit den Bäumen. Ich sah sie gewissermaßen in ihrer Nacktheit, wie sie sich vom Boden lösten und in die Höhe strebten; sie gaben ihr Innerstes preis, obwohl ihre Wurzeln verborgen waren. Auf der Lichtung im Englischen Garten umringten sie mich wie große Brüder, zugleich Intimität und den Abstand des Größeren vermittelnd. Urs Freunds Bäume aber werden keine Freunde. Sie wahren eine kühle Distanz. Kommt man ihnen zu nahe, d.h. nähert man sich den Bildern zu dicht, so verschwinden sie gewissermaßen, sie zerfallen, weil dann die einzelnen Pinselstriche den visuellen Eindruck zu dominieren beginnen: die sichtbar werdende materielle Basis des Bildes schiebt sich vor das Dargestellte. Hier ist wohl auch einer der Unterschiede zum Fotorealismus zu verorten. Doch zurück zur kühlen Distanz der Bäume. Lässt sie sich näher charakterisieren?
Vielleicht liefern die geschlagenen Bäume, die Holzstöße, die auf manchen Bildern dargestellt sind, meist im Vordergrund vor lebenden Bäumen, einen Schlüssel, wie auch die zwei Bilder, bei denen ganz im Vordergrund die Leitplanke einer vorbeiführenden Straße sichtbar ist. Diese Bilder erscheinen mir vollkommen frei von der möglichen Klage, dass hier „der Mensch“ Bäume gefällt und damit getötet hat, oder sich die Straße zerstörerisch durch den Wald frisst. Die Würde des Waldes und der Bäume ist vielmehr unangetastet: die Holzstöße und die Straße sind eben auch da, nicht mehr und nicht weniger. Der Stolz der Bäume besteht darin, dass ihnen der Betrachter egal ist; ihre kühle Distanz besteht in der Mitteilung an den Betrachter, dass er ignoriert wird, ja, selbst für diese Mitteilung sind sie sich zu schade. Die Bäume können so nicht zu bloßen Objekten des Betrachters werden, sie sind und bleiben ein reales, mindestens gleichgewichtiges Gegenüber. „Es gibt uns auch ohne Euch“, scheinen sie zu sagen, doch mehr zu sich und Ihresgleichen als zu uns. Das scheint mir den ganz besonderen Reiz der Bilder auszumachen.
Wie ist dieser Eindruck der kühlen Distanz der Bäume malerisch realisiert? Sicherlich mit durch die naturalistische bzw. realistische Komponente, durch die der Maler dem Betrachter mitteilt, dass er sich gewissermaßen nicht einmischt in die dargestellten Gegenstände, dass er sie so lässt, wie sie von sich aus sind, dass er ihnen nicht seinen eigenen Gestaltungswillen aufdrängt. Das kann aber, genauer betrachtet, nicht ganz richtig sein. Einmal sind die Bilder nicht fotorealistisch und das bedeutet, dass sich der Gestaltungswille des Malers in den Bildern selber finden lässt, selbst wenn er auch vielleicht nicht auf den ersten Blick offen zutage tritt. Zum anderen ist es natürlich die Wahl des Malers, genau auf diese und keine andere Art zu malen, und das Bild ist das Resultat genau dieser seiner Wahl. Natürlich vereinnahmt der Maler die dargestellten Gegenstände, indem er sie ins Bild zwingt. Aber in Urs Freunds Darstellung der Bäume zeigen diese uns die kalte Schulter, sie sind sogar immun gegen des Malers Vereinnahmung. Noch einmal: Wie also ist die kühle Distanz der Bäume malerisch realisiert? Ich weiß es nicht. Vielleicht weiß es Urs Freund. Auf jeden Fall kann er sie darstellen.
Prof. Dr. Paul Hoyningen Huene ist Professor für Philosophie mit einem Schwerpunkt in Wissenschaftsphilosophie am Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover